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JACOPO DA FIVIZZANO
von Birgit Urmson

Hat man hier eine gebildete und kulturinteressiert Dame zur Freundin, beschert einem das die ungewöhnlichsten Erlebnisse. Meine Freundin Grazia Santini, gebürtig aus Genua, die die Liebe nach Castiglione verschlagen hat, lädt zu den abenteuerlichsten Exkursionen ein. Ihr Ehemann Tedice, ein würdiger älterer Herr, ist "avvocato" - Anwalt - im Ruhestand. Er besitzt den schönsten Humor, in den sich aber ein Anflug der bitteren Wiesenkräuter der hiesigen Garfagnana zu mischen scheint.

Ein solches "Abenteuer" haben wir gestern erlebt. Es führte uns in die Lunigiana, eine recht unberührte und arme Gegend. Dörfer, die auf Felsen in der blauen Luft zu schweben scheinen. Die Straße kurvig. John war unser Fahrer. Auf der Rückbank schwatzte Grazia mit einer Freundin und erklärte die Sehenswürdigkeiten der Gegend. Es fehlte nicht an kunstgeschichtlichen Kostbarkeiten auf dem Weg. Hier eine romanische Kirche, dort eine Festung der d'Este in ihrem streng kubistischem Stil. Wir brauchten von Barga aus zweieinhalb Stunden für die 50 Kilometer. Unser Ziel: Fivizzano. Eines dieser vielen schönen Städtchen, an denen Italien so reich ist. Freilich, Fivizzano ist heruntergekommen. Das Geld fehlt. Und ein schreckliches Erdbeben im Jahr 1920 hat die Stadt verwüstet, wovon sie sich nie richtig erholen konnte. Die begabten jungen Leute wanderten aus.

Wir näherten uns unserem Ziel. Vor der Stadt eine hübsche Anlage mit schattenspendenden Platanen. Von hier aus lässt sich in sonnigen Zeiten gut der Ausblick über die Gebirgswelt ringsum genießen. Der Weg führte uns durch ein Tor, wir gelangten auf die Piazza Garibaldi - wie sollte sie auch anders heißen - mit dem allerorts anzutreffenden Denkmal für die "caduti", die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Eine schmale Straße, gesäumt von edlen, wenngleich heruntergekommenen Fassaden versprach noch größere Schönheit. Diese bot sich dann auf einer weiträumigen Piazza dar. Ein Brunnen plätscherte dort vor sich hin, seit ein Medici, Cosimo, Mitte des 16. Jahrhunderts die Stadt besucht hatte. Er gab dem Hang der Medici zum Prächtigen gerne nach, ließ die Tore erneuern und diesen Brunnen bauen.

Der eigentliche Grund des Ausflugs stellte sich nun endlich heraus. Vor einer wundervoll harmonischen Palazzo-Fassade, dem Werk eines bekannten Renaissance-Architekten, trafen wir eine Dame mit Tochter. Die Dame war sehr konservativ italienisch gekleidet, in leuchtend grüner Kostümjacke und, obwohl deutsch und Engelhardt heißend, trat sie italienischer auf als jeder Eingeborene. Ihr Italienisch war so korrekt, dass ich vor Neid nur erblassen konnte. Sie gehörte einer internationalen Vereinigung von kulturell engagierten Frauen an und hatte den Ausflug zu diesem Palazzo organisiert. Genauer gesagt handelte es sich dabei um den "Palazzo Fantoni Bononi", mit dem "Museo della Stampa", einem Museum der Geschichte der Druckkunst. Allmählich fügten sich Eindrücke wie Steinchen zum Mosaik zusammen. Jacopo da Fivizzano hatte in der Stadt gelebt und Bücher gedruckt, und das sehr früh, ab 1471, sogar einige Jahre vor den Venezianern. Wir mussten warten und standen herum. In der Kirche wurde irgendeine Zeremonie begangen. Junge Messdiener in Weiß standen am Eingang. Ich erwartete, dass irgend etwas passiere, aber die schönen und jungen Kirchendiener blieben wo sie waren. Allgemeines Herumstehen. Riesige Glocken läuteten Melodien. Sie waren an seltsamen Speichenrädern angebracht, drehten sich wild und gefährlich aus der Turmfassade heraus, ja verharrten kopfüber. So konnte Ton für Ton einzeln angespielt werden. Eine bemerkenswerte Anlage, vielleicht das Lebenswerk eines lokalen Genius, der einmal nicht ausgewandert war. Auf mich wirkte es sehr bedrohlich. Warum bedrängte mich diese Art von Glockenspiel so alptraumartig? Es fiel mir ein: In unserem Schulbuch der zweiten Klasse gab es eine Bildergeschichte. Eine riesige Glocke verfolgt ein Kind, weil es nicht in die Kirche gehen wollte. Das kleine Mädchen rannte um sein Leben. Meine Schwester und ich wurden durch dieses Bild regelrecht traumatisiert. Die Fivizzano-Glocken erinnerten mich stark daran.

Bald gesellte sich eine Gruppe von sehr elegant gekleideten Leuten zu uns. Es waren Mitglieder jenes Kulturclubs, meist Italiener. Bis auf einen Dänen und seine englische Frau. Ich schwärmte ihm gleich von einem Dänisch-Römer vor, dem Maler Abildgaard. Er hatte noch nie von ihm gehört, denn eigentlich interessiere er sich nur für das Skifahren und Gärtnern, das ihm beides sein Wohnsitz in einem der Dörfer der Gegend ermöglichte. Die Situation war typisch. Die Bewohner der Gegend ergreifen jede Gelegenheit, sich zu treffen und etwas zu unternehmen. Und wenn es etwas Kulturelles sein muss, dann ist es auch recht. Alle Anwesenden hatten sich fein gemacht. Die Herren im Anzug mit Krawatte. Die Damen mit Make-up, eleganten Schuhen und eigens aus den Schatullen hervorgeholten Brillanten, die in der Sonne blitzten. Nild

Dann erschien ein älterer, noch sehr ansehnlicher Herr mit den allerschönsten blauen Augen und einer Adlernase; in buntem Hemd und Hosenträgern: Dottore Loris Jacopo Bononi. Er begann zu sprechen und hörte sobald nicht mehr damit auf. Kurze Zeit später wurde festgestellt, dass der Schlüssel zum Palazzo, dem Museum, nicht aufzufinden war. Dottore Bononi geriet außer sich. Er war früher der Besitzer des wirklich edlen Gebäudes gewesen und hatte es der Stadt vermacht. Und jetzt wusste niemand, wo sich der Schlüssel befindet, obwohl Frau Engelhardt, wie sie mir endlich auf Deutsch erklärte, angeblich alles für den Besuch vorbereitet hatte. Die Gruppe wartete ungefähr eine Stunde wie auf ein Wunder. Alle standen geduldig in ihren engen Schuhen herum. Ein älterer gemütlicher Mann in einer Werkstatt gegenüber schmirgelte unentwegt eine alte Tür. Die deutsche Dame versuchte verzweifelt jemanden auf ihrem Handy zu erreichen. Bononi wurde immer aufgeregter. Ich machte mich schon auf eine Herzattacke gefasst. Schließlich setzte die Gruppe sich in Bewegung. Da winkte mir der Schmirgler von gegenüber zu, öffnete eine Tür zu seinem Haus und zeigte mir stolz eine restaurierte alte Fabrik, in der einst Schuhe hergestellt wurden. Die Einrichtung im ehemaligen Fabrikraum war nicht gerade gemütlich, aber das Ein und Alles des Besitzers. Bedeutungsschwanger wies er auf die Wand, an der die eingerahmten Diplome seiner Kinder hingen.

Die Gruppe drängte sich endlich im Nebenraum der besten und wahrscheinlich einzigen Bar an der Piazza zusammen. Signor Bononi begann zu sprechen. Und nun durften wir einen der so selten gewordenen, feinen Menschen mit klassisch-humanistischer Bildung erleben, einen ehemaligen Arzt aus guter, wohlhabender Familie, der sich als Erforscher von Antibiotika bei Pfizer in den Staaten hervorgetan und ein eigenes Vermögen erarbeitet hatte. Er sprach geschlagene zwei Stunden, ohne Pause, und befleißigte sich der schönen poetischen Rhetorik einer nahezu erloschenen Generation. Seine große Liebe: alte Bücher. Aus einer Tasche zog er alte ledergebundene Bücher, die eben von diesem Jacopo da Fivizzano gedruckt worden waren. (Eines davon hatte er in Connecticut gefunden!). Mit seinen schönen, zitternden Händen öffnete er sie liebevoll. Ciceros Reden waren darunter. Es war offensichtlich, die große Liebe dieses Menschen waren die alten Bücher. Nun kam er nicht darüber hinweg, dass die Stadt sein Erbe, seinen Palazzo, sein Druckereimuseum mit großer Bibliothek einfach so verkommen ließ. Auch der ummauerte Garten war zu einer einzigen Unkrautwüste geworden. Die Kultur, der Humanismus - wo waren sie geblieben, fragte er voller Leidenschaft und Schmerz. Tränen füllten seine leuchtenden blauen Augen.

Im Raum war es mucksmäuschenstill. Manchmal wurden Blicke getauscht. Nicht jeder teilte die Ansichten des Dottore. Seine Exkurse erstreckten sich von der Tagespolitik bis zur Ausrottung der Indianer im Namen des Katholizismus. Grazia, fromme Katholikin, warf mir bei diesem Thema einen verzweifelten Blick zu, dem ich auswich, denn ich stand auf der Seite des bibliophilen Humanisten. Schließlich las er, der Pharmazeut, Bibliophile und - wie ich später erfuhr - arrivierte Dichter Italiens, eine wunderbare Hymne aus seiner Feder auf "Das Buch" vor. Dann tobte der Beifall. Ein Herr machte eine Ansprache und überreichte ihm ein Buch zum Geschenk. Ein Werk über die hiesige Kochkunst der letzten 50 Jahre. Grazia klärte mich auf: in armen Gegenden wie der Lunigiana verstehen es die Menschen besonders gut, Wildkräuter in ihren Gerichten zu verwenden. Auf meinem Fensterbrett in Barga wachsen schon einige vor sich hin. Kultur und gutes Essen, und diese herzergreifende Schönheit überall!

Als wir gegen Mitternacht endlich wieder in Barga ankamen, war der Teufel los. Junge Männer standen in offenen Autos, schwenkten Fahnen, ein Gehupe und Geschrei. Ein Ausbruch jugendlichen Testosterons. Die örtliche Fußballmannschaft hatte wohl ein Spiel gewonnen. Diese prosaischen Szenen würden dem alten Jacopo Bononi wohl nicht gefallen. Er streichelte jetzt sicher schon die Bücher, die Jacopo da Fivizzano vor über 500 Jahren gedruckt hatte, und schlief mit Ciceros Worten im Herzen ein.


 

 
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JACOPO DA FIVIZZANO
von Birgit Urmson