Ein
solches "Abenteuer" haben wir gestern erlebt. Es führte
uns in die Lunigiana, eine recht unberührte und arme Gegend.
Dörfer, die auf Felsen in der blauen Luft zu schweben scheinen.
Die Straße kurvig. John war unser Fahrer. Auf der Rückbank
schwatzte Grazia mit einer Freundin und erklärte die Sehenswürdigkeiten
der Gegend. Es fehlte nicht an kunstgeschichtlichen Kostbarkeiten
auf dem Weg. Hier eine romanische Kirche, dort eine Festung der d'Este
in ihrem streng kubistischem Stil. Wir brauchten von Barga aus zweieinhalb
Stunden für die 50 Kilometer. Unser Ziel: Fivizzano. Eines dieser
vielen schönen Städtchen, an denen Italien so reich ist.
Freilich, Fivizzano ist heruntergekommen. Das Geld fehlt. Und ein
schreckliches Erdbeben im Jahr 1920 hat die Stadt verwüstet,
wovon sie sich nie richtig erholen konnte. Die begabten jungen Leute
wanderten aus.
Wir
näherten uns unserem Ziel. Vor der Stadt eine hübsche
Anlage mit schattenspendenden Platanen. Von hier aus lässt
sich in sonnigen Zeiten gut der Ausblick über die Gebirgswelt
ringsum genießen. Der Weg führte uns durch ein Tor, wir
gelangten auf die Piazza Garibaldi - wie sollte sie auch anders
heißen - mit dem allerorts anzutreffenden Denkmal für
die "caduti", die Gefallenen des Ersten Weltkriegs. Eine
schmale Straße, gesäumt von edlen, wenngleich heruntergekommenen
Fassaden versprach noch größere Schönheit. Diese
bot sich dann auf einer weiträumigen Piazza dar. Ein Brunnen
plätscherte dort vor sich hin, seit ein Medici, Cosimo, Mitte
des 16. Jahrhunderts die Stadt besucht hatte. Er gab dem Hang der
Medici zum Prächtigen gerne nach, ließ die Tore erneuern
und diesen Brunnen bauen.
Der
eigentliche Grund des Ausflugs stellte sich nun endlich heraus.
Vor einer wundervoll harmonischen Palazzo-Fassade, dem Werk eines
bekannten Renaissance-Architekten, trafen wir eine Dame mit Tochter.
Die Dame war sehr konservativ italienisch gekleidet, in leuchtend
grüner Kostümjacke und, obwohl deutsch und Engelhardt
heißend, trat sie italienischer auf als jeder Eingeborene.
Ihr Italienisch war so korrekt, dass ich vor Neid nur erblassen
konnte. Sie gehörte einer internationalen Vereinigung von kulturell
engagierten Frauen an und hatte den Ausflug zu diesem Palazzo organisiert.
Genauer gesagt handelte es sich dabei um den "Palazzo Fantoni
Bononi", mit dem "Museo della Stampa", einem Museum
der Geschichte der Druckkunst. Allmählich fügten sich
Eindrücke wie Steinchen zum Mosaik zusammen. Jacopo da Fivizzano
hatte in der Stadt gelebt und Bücher gedruckt, und das sehr
früh, ab 1471, sogar einige Jahre vor den Venezianern. Wir
mussten warten und standen herum. In der Kirche wurde irgendeine
Zeremonie begangen. Junge Messdiener in Weiß standen am Eingang.
Ich erwartete, dass irgend etwas passiere, aber die schönen
und jungen Kirchendiener blieben wo sie waren. Allgemeines Herumstehen.
Riesige Glocken läuteten Melodien. Sie waren an seltsamen Speichenrädern
angebracht, drehten sich wild und gefährlich aus der Turmfassade
heraus, ja verharrten kopfüber. So konnte Ton für Ton
einzeln angespielt werden. Eine bemerkenswerte Anlage, vielleicht
das Lebenswerk eines lokalen Genius, der einmal nicht ausgewandert
war. Auf mich wirkte es sehr bedrohlich. Warum bedrängte mich
diese Art von Glockenspiel so alptraumartig? Es fiel mir ein: In
unserem Schulbuch der zweiten Klasse gab es eine Bildergeschichte.
Eine riesige Glocke verfolgt ein Kind, weil es nicht in die Kirche
gehen wollte. Das kleine Mädchen rannte um sein Leben. Meine
Schwester und ich wurden durch dieses Bild regelrecht traumatisiert.
Die Fivizzano-Glocken erinnerten mich stark daran.
Bald
gesellte sich eine Gruppe von sehr elegant gekleideten Leuten
zu uns. Es waren Mitglieder jenes Kulturclubs, meist Italiener.
Bis auf einen Dänen und seine englische Frau. Ich schwärmte
ihm gleich von einem Dänisch-Römer vor, dem Maler
Abildgaard. Er hatte noch nie von ihm gehört, denn eigentlich
interessiere er sich nur für das Skifahren und Gärtnern,
das ihm beides sein Wohnsitz in einem der Dörfer der Gegend
ermöglichte. Die Situation war typisch. Die Bewohner der
Gegend ergreifen jede Gelegenheit, sich zu treffen und etwas
zu unternehmen. Und wenn es etwas Kulturelles sein muss, dann
ist es auch recht. Alle Anwesenden hatten sich fein gemacht.
Die Herren im Anzug mit Krawatte. Die Damen mit Make-up, eleganten
Schuhen und eigens aus den Schatullen hervorgeholten Brillanten,
die in der Sonne blitzten. |
Nild
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Dann
erschien ein älterer, noch sehr ansehnlicher Herr mit den allerschönsten
blauen Augen und einer Adlernase; in buntem Hemd und Hosenträgern:
Dottore Loris Jacopo Bononi. Er begann zu sprechen und hörte
sobald nicht mehr damit auf. Kurze Zeit später wurde festgestellt,
dass der Schlüssel zum Palazzo, dem Museum, nicht aufzufinden
war. Dottore Bononi geriet außer sich. Er war früher
der Besitzer des wirklich edlen Gebäudes gewesen und hatte
es der Stadt vermacht. Und jetzt wusste niemand, wo sich der Schlüssel
befindet, obwohl Frau Engelhardt, wie sie mir endlich auf Deutsch
erklärte, angeblich alles für den Besuch vorbereitet hatte.
Die Gruppe wartete ungefähr eine Stunde wie auf ein Wunder.
Alle standen geduldig in ihren engen Schuhen herum. Ein älterer
gemütlicher Mann in einer Werkstatt gegenüber schmirgelte
unentwegt eine alte Tür. Die deutsche Dame versuchte verzweifelt
jemanden auf ihrem Handy zu erreichen. Bononi wurde immer aufgeregter.
Ich machte mich schon auf eine Herzattacke gefasst. Schließlich
setzte die Gruppe sich in Bewegung. Da winkte mir der Schmirgler
von gegenüber zu, öffnete eine Tür zu seinem Haus
und zeigte mir stolz eine restaurierte alte Fabrik, in der einst
Schuhe hergestellt wurden. Die Einrichtung im ehemaligen Fabrikraum
war nicht gerade gemütlich, aber das Ein und Alles des Besitzers.
Bedeutungsschwanger wies er auf die Wand, an der die eingerahmten
Diplome seiner Kinder hingen.
Die
Gruppe drängte sich endlich im Nebenraum der besten und wahrscheinlich
einzigen Bar an der Piazza zusammen. Signor Bononi begann zu sprechen.
Und nun durften wir einen der so selten gewordenen, feinen Menschen
mit klassisch-humanistischer Bildung erleben, einen ehemaligen Arzt
aus guter, wohlhabender Familie, der sich als Erforscher von Antibiotika
bei Pfizer in den Staaten hervorgetan und ein eigenes Vermögen
erarbeitet hatte. Er sprach geschlagene zwei Stunden, ohne Pause,
und befleißigte sich der schönen poetischen Rhetorik
einer nahezu erloschenen Generation. Seine große Liebe: alte
Bücher. Aus einer Tasche zog er alte ledergebundene Bücher,
die eben von diesem Jacopo da Fivizzano gedruckt worden waren. (Eines
davon hatte er in Connecticut gefunden!). Mit seinen schönen,
zitternden Händen öffnete er sie liebevoll. Ciceros Reden
waren darunter. Es war offensichtlich, die große Liebe dieses
Menschen waren die alten Bücher. Nun kam er nicht darüber
hinweg, dass die Stadt sein Erbe, seinen Palazzo, sein Druckereimuseum
mit großer Bibliothek einfach so verkommen ließ. Auch
der ummauerte Garten war zu einer einzigen Unkrautwüste geworden.
Die Kultur, der Humanismus - wo waren sie geblieben, fragte er voller
Leidenschaft und Schmerz. Tränen füllten seine leuchtenden
blauen Augen.
Im
Raum war es mucksmäuschenstill. Manchmal wurden Blicke getauscht.
Nicht jeder teilte die Ansichten des Dottore. Seine Exkurse erstreckten
sich von der Tagespolitik bis zur Ausrottung der Indianer im Namen
des Katholizismus. Grazia, fromme Katholikin, warf mir bei diesem
Thema einen verzweifelten Blick zu, dem ich auswich, denn ich stand
auf der Seite des bibliophilen Humanisten. Schließlich las
er, der Pharmazeut, Bibliophile und - wie ich später erfuhr
- arrivierte Dichter Italiens, eine wunderbare Hymne aus seiner
Feder auf "Das Buch" vor. Dann tobte der Beifall. Ein
Herr machte eine Ansprache und überreichte ihm ein Buch zum
Geschenk. Ein Werk über die hiesige Kochkunst der letzten 50
Jahre. Grazia klärte mich auf: in armen Gegenden wie der Lunigiana
verstehen es die Menschen besonders gut, Wildkräuter in ihren
Gerichten zu verwenden. Auf meinem Fensterbrett in Barga wachsen
schon einige vor sich hin. Kultur und gutes Essen, und diese herzergreifende
Schönheit überall!
Als
wir gegen Mitternacht endlich wieder in Barga ankamen, war der Teufel
los. Junge Männer standen in offenen Autos, schwenkten Fahnen,
ein Gehupe und Geschrei. Ein Ausbruch jugendlichen Testosterons.
Die örtliche Fußballmannschaft hatte wohl ein Spiel gewonnen.
Diese prosaischen Szenen würden dem alten Jacopo Bononi wohl
nicht gefallen. Er streichelte jetzt sicher schon die Bücher,
die Jacopo da Fivizzano vor über 500 Jahren gedruckt hatte,
und schlief mit Ciceros Worten im Herzen ein.
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