Ein neues Werk des Autors Gerd Scherm
Der satirische Aufklärer
Von der Schöpfung
bis zum Weltuntergang wer einmal Gerd Scherms fünfundzwanzig
phantastische Variationen auf unsere lieb gewordenen Vorstellungen
kennt, beginnt zu ahnen, wie weit der moderne Mensch von einem rationalen,
ausgeglichenen Weltbild entfernt ist. Neigen doch gerade Skeptiker
und Freidenker dazu, das verwirrende Mosaik aus Mythen und Irrglauben,
mit dem auch heute jedes Kind aufwächst, zu ersetzen und zu
ergänzen zumeist mit einem höchst absonderlichen
Geflecht logisch erscheinender Annahmen und Theorien. Und schon
sitzen sie in der intellektuellen Falle, die Scherm in fast jedem
Kapitel genüsslich ausmalt.
Schlüsselperson
und Verführer ist dabei fast immer der Aufklärer
eine Rolle, die der Autor mit allen Nuancen auskostet. Er
vermag seine Erkenntnisse mit der Trockenheit eines dpa-Fernschreibers
zu vermitteln (Trotz vielfacher Ankündigung hat der Weltuntergang
zweifelsfrei noch nicht stattgefunden) oder in der Pose des
Wissenschaftlers (Von den vielen im Umlauf befindlichen Mozart-Schädeln
sind nur zwei mit Sicherheit echt). Er kann den Zuhörer
schnurstracks in eine Schnurre entführen (Vor einigen
Tagen wurde ich in einem Dorfgasthaus unfreiwillig Zeuge eines Gesprächs)
oder ihm raunend einen Mythos nahe bringen (Das Geheimnis
umgibt sie wie ein Nebelschleier und Generationen raunen von ihren
mysteriösen Ritualen). Oder er gewinnt die Aufmerksamkeit
mit dem Charme eines Werbesprechers: Gehören Sie zu denen,
die glauben, die Werbung würde die Menschen nur manipulieren?
Stets führt
aber die in jedem Kapitel vorgetragene Prämisse oder landläufige
Meinung (Gemeinhin erzählt man sich...) zum machtvollen
Eingreifen des Aufklärers, der dann den vorgeblichen Schwindel
(oder Irrtum, Erfindung, Rätsel, Überlieferung, Geheimnis,
Lügengeschichte, Unsinn, Quatsch) entlarvt oder enthüllt,
sei es über den Tod von Mozart, Marilyn Monroe oder Elvis,
über die Freimaurer, über Natur- und Literaturgeschichte,
über heidnische und biblische Mythen, über UFOs und die
Mondlandung.
Just an diesem
Punkt wird der Aufklärer zum Vermittler einer neuen, absichtlich
überspannten, parodistischen Version des soeben gebrandmarkten
Irrtums. Mit entfesselter Phantasie führt Scherm seine Leserschaft
jedes Mal in ein literarisches Abenteuer, welches die von ihm zersprengte
Originalversion an Extravaganz weit überflügelt, dabei
mit einer logischen Stringenz, welche selbst an sich aberwitzigen
Vorgängen eine gewisse märchenhafte Wirklichkeit verleiht.
Ein Beispiel sind die Eisbären, welche die Titanic mit ihren
Sprengstoffgürteln versenken ein Motiv, das durchaus
den täglichen Nachrichten entnommen sein könnte.
Einige Bilder
sind dem Autor so stimmig gelungen, dass sie als eigenständige
Mythen in der Literatur Bestand haben könnten, zum Beispiel
jener Orden gebenedeiter Schwestern, deren Redefluss das gesamte
Universum aufrecht erhält.
Viele beachtliche
Aperçus im neuen Büchlein betreffen Frauen (Frauen
werden weltreligionsmäßig eher selten erlöst;
In dem Drittel der [Klage-] Mauer, das für Frauen zugänglich
ist, wird so oft und so laut geklagt, dass die Steine marode geworden
sind) und andere denkwürdige Themen (Die Evolution
ist eindeutig auf der Seite der Legastheniker und Analphabeten).
Lesenswert
ist das kleine Brevier allemal, vielleicht gerade weil es nicht
darauf angelegt ist, das große Lachen und Schenkelklopfen
hervorzurufen, sondern viel eher ein kleines, wissendes Lächeln.
Ingo Bathow
Gerd Scherm
Das Brevier der allerletzten Wahrheiten:
Enthüllungen und Richtigstellungen von
Mozarts Tod bis zur Erfindung des Happy Ends
Norderstedt:
Books on Demand, 2005
ISBN 3-8334-3366-3
€ 6,90 (versandkostenfrei vom Autor über E-Mail gerd@scherm.de
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